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Vorsicht: Work-Life-Balance kann Ihre Gesundheit gefährden!

Unsicherheit als Geschäft

Dieser Artikel erschien in Alpha — der Kader­markt der Schweiz am 28. 2. 2009. Er gefiel mir so gut, dass ich mir die Erlaub­nis einge­holt habe, ihn hier auf meinem Blog repro­duzieren zu dür­fen. Mit fre­undlich­er Genehmi­gung des Ver­lags und der Autorin, Frau Susanne Ziesche.

Der Rat­ge­ber­boom und die damit ver­bun­dene The­men­vielfalt kor­rumpieren immer öfters Begriffe. Zen­trale Anliegen wer­den oft in einem falschen Kon­text disku­tiert. Ein Plä­doy­er für mehr Inhalt und Vernunft.

Zu Beginn der Men­schheit gab es Zeitgenossen, die es sich geleis­tet haben, weniger Anteil am täglichen Über­leben­skampf zu haben und anfin­gen, die Wände der Wohn­höh­le zu bemalen, meist mit Jagdszenen; die Grund­lage für den Kun­st­be­trieb und die Zoolo­gie war gelegt. Später gab es welche, die als ver­sklavte Lehrer oder wohlhabende Bürg­er anfin­gen, über den Sinn des Lebens und über die rechte Art zu Leben nachzu­denken, und die Philoso­phie war geboren. Die Fra­gen, mit denen sich diese Vor­fahren beschäftigt haben, sind die gle­ichen, die uns noch heute beschäfti­gen. Doch die philosophis­che Auseinan­der­set­zung ist ein recht beschw­er­lich­er Weg der Selb­sterken­nt­nis. So hat meine Diszi­plin, die Psy­cholo­gie, in Koop­er­a­tion mit diversen nicht ein­schlägi­gen Beruf­szweigen über­legt, wie wir diesen Weg pop­u­lar­isieren kön­nten. Also kreierten wir einen lukra­tiv­en Rat­ge­ber­boom. Die Schwierigkeit bestand lediglich darin, dass die meis­ten poten­ziellen Klien­ten sich ein­bilde­ten, mit ihrem Leben recht gut zurechtzukom­men. Hier musste der Hebel ange­set­zt wer­den! Nach ein­schlägi­gen, als Weit­er­bil­dung getarn­ten Mar­ket­ingver­anstal­tun­gen glauben Gen­er­a­tio­nen von Führungskräften, nicht reden zu kön­nen, Chaoten und/oder unge­ho­belte Tölpel zu sein.
Als Teil­nehmer solch­er Aktiv­itäten haben sie eben­falls gel­ernt, bere­itwillig in sich zu gehen, wenn sie hören, dass man z.?B. keine Angst vor Macht haben müsse, da es von «machen» komme… Bis jemand im Ety­mol­o­gis­chen Lexikon ent­deckt, dass Macht aus dem althochdeutschen “maht” stammt und somit mit mögen, möglich, etwas ver­mö­gen ver­wandt ist; während machen als (Lehm)kneten im Griechis­chen ver­wurzelt ist. Um Missver­ständ­nis­sen vorzubeu­gen: Ich halte lebenslange Weit­er­bil­dung, erst recht auf dem per­sön­lichkeits­bilden­den Sek­tor, als eine für jeden Men­schen vornehme Auf­gabe. Oder mit Oscar Wilde: “Selb­sten­twick­lung ist der Sinn des Daseins.”

Trends als Schlüsselreiz
Mein Angriff richtet sich gegen die Infla­tion soge­nan­nter Weit­er­bil­dung­sev­ents und die damit ver­bun­dene Sprachver­hun­zung. Es wer­den Mode­be­griffe kreiert, die wichtige Inhalte für einen Trend auf­greifen, um dann, wie eine Herde, die von ein­er abge­gras­ten zur näch­sten Wiese getrieben wird, sich einem neuen The­ma zuzuwen­den. Dass diese Ver­mark­tungsstrate­gie mit Anglizis­men opti­mal funk­tion­iert, ver­ste­ht sich. Nüt­zlich ist auch, sich der ökonomis­chen Ter­mi­nolo­gie zu bedi­enen, dann klingt es gewin­nträchtiger (wenn auch men­schen­ver­ach­t­en­der), wie z.?B. Human Cap­i­tal. Und fröh­lich wird die Ren­dite von Men­schen berech­net! Was gar nicht ver­wun­dert, da wir schon umgangssprach­lich in Beziehun­gen investieren, Kinder anschaf­fen und die alt­modis­che Mut­ter durch die Fam­i­lien man­agerin erset­zen. Seit ein­er guten Weile ist Selb­st­man­age­ment, ins­beson­dere Work-Life-Bal­ance, der Ren­ner am Ratgebermarkt.
Noch wird die Fes­tle­gung von Qual­itäts­massstäben für das Leben und deren Quan­tifizierung disku­tiert und damit die Def­i­n­i­tion, was lebenswertes Leben sei, wie auch die Frage (kein Prob­lem!), was zu tun sei bei man­gel­nder Qual­ität. Eine ethis­che Antwort dürfte es darauf schw­er geben. Dabei fing es gar nicht übel an: Aus der antiken Tugend der Gelassen­heit wurde Lebens­bal­ance — da kon­nte man sich fast vorstellen, dass es um das Gle­ichgewicht ver­schieden­er Lebens­bere­iche geht. Es ist span­nend zu disku­tieren, welche Bere­iche dazu gehören, wie diese Aus­ge­wogen­heit in der Lebenss­panne zu erre­ichen ist und welche Gren­zen ein­er solchen Bal­ance gegeben sind.

Sprache bee­in­flusst Denken
Richtig wütend macht allerd­ings, wenn qua­si als Light-Ver­sion eine Work-Life-Bal­ance gepriesen wird. Die Gegenüber­stel­lung der Begriffe Leben und Arbeit deutet einen Gegen­satz an, wonach Arbeit kein Leben und Leben keine Arbeit ist. Mag diese Ansicht gut zur Freizeit­ge­sellschaft passen, krank ist es trotz­dem! In der poli­tis­chen Diskus­sion argu­men­tieren wir, wie schädlich und men­schen­ver­ach­t­end Ent­frem­dung sei. In dem Kon­text Work-Life-Bal­ance erheben wir ent­fremdete Arbeit zum erstrebenswerten Ziel?! Selb­stver­ständlich kann erwidert wer­den, dass es sich um eine verkürzte For­mulierung, um eine Etiket­tierung han­delt und jed­er weiss, was gemeint ist. Wirk­lich? Ist es nicht eher so, dass sprach­liche Unge­nauigkeit unsauberes Denken fördert, was in Wech­sel­wirkung noch unge­nauere (gefühlte?) Aus­sagen nach sich zieht? Oder mit Kon­fuz­ius: “Wenn die Sprache nicht stimmt, dann ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist. Ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist, so kom­men keine guten Werke zus­tande. Kom­men keine guten Werke zus­tande, so gedei­hen Kun­st und Moral nicht. Gedei­hen Kun­st und Moral nicht, so trifft die Jus­tiz nicht. Trifft die Jus­tiz nicht, so weiss das Volk nicht, wohin es Hand und Fuss set­zen soll. Also dulde man keine Willkür­lichkeit in den Worten. Das ist es, worauf es ankommt.” (in: Buch der Gespräche). Schon die Beze­ich­nung Freizeit als Abgren­zung zur Arbeit ist für frag­würdig; bedeutet sie doch, dass die andere Zeit unfrei sei. Ich weiss nicht, ob die sozialen Zwänge der Freizeit wirk­lich geringer sind als die (Sach)Zwänge des Berufs lebens. Hängt es nicht eher von unser­er Bere­itschaft ab, den eige­nen Weg zu gehen?

Falsch inter­pretierte Dualität
Die Gle­ich­w­er­tigkeit von Pri­vat- und Beruf­sleben ist eine erstrebenswerte, gesunde Ein­stel­lung; sie schärft das Bewusst­sein für Pri­or­itäten, hil­ft Kon­flik­te zu erken­nen und trägt zur Inte­gra­tion als soziales Wesen bei. Ger­ade die aktuelle Diskus­sion um die Vere­in­barkeit von Kindern (Fam­i­lie) und Kar­riere verdeut­licht dieses Rin­gen mit Ansprüchen, Sehn­sücht­en und Pflicht­en beispiel­haft. Ob eine andauernde quan­ti­ta­tive Bal­ance über­haupt möglich ist, sei dahingestellt. Beruf (selb­st für Worka­holic net­to weniger als ein Drit­tel der durch­schnit­tlichen Lebenser­wartung) und Pri­vates gehören zusam­men und gestal­ten mit weit­eren Domä­nen zusam­men die Fülle des Lebens. Und angesichts dieser Fülle kön­nten wir “Lebens­gestal­tung”, soweit sie in unser­er Hand liegt, weniger aufgeregt ange­hen. Wir soll­ten aber auf keinen Fall zulassen, dass Arbeit und Leben als Dual­ität dargestellt wer­den und Ent­frem­dung zur alltäglichen Real­ität wird. 
Arbeit als Teil­menge des Lebens kann und soll jed­erzeit und an allen Orten so gestal­tet, ver­mit­telt und wahrgenom­men wer­den, dass deren Sinn erleb­bar und nachvol­lziehbar wird: “Wer (…) ein Warum weiss, erträgt auch das Wie.” (Niet­zsche) Wäre dies nicht ein lohnenswertes Event-The­ma — mit hof­fentlich sinns­tif­ten­den, ver­ständlichen und klaren Formulierungen?


Susanne Ziesche ist Diplom-Psy­cholo­gin und in der Führungskräf­teen­twick­lung tätig (www.ziesche.ch).

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