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Die Stoppuhr — oder wie mein Glaube an die Gerechtigkeit zerbrach

Diese Geschichte erzählt ein Erleb­nis aus mein­er Kind­heit. Daran, wann sich das Ganze zuge­tra­gen hat, erin­nere ich mich nicht mehr genau, aber es muss zu der Zeit gewe­sen sein, als ich in die 4. oder 5. Klasse ging, weil mein dama­liger Lehrer, Herr Aeschbach*, darin eine wichtige Rolle spielt. Also muss ich 9 oder 10 Jahre alt gewe­sen sein. Meine Eltern macht­en in jenen Jahren gerne Wan­der­fe­rien im Herb­st, und genau­so war es in diesem Jahr gewe­sen. Das Bin­ntal im Wal­lis war eine wun­der­bar wilde Gegend, in der ich unter anderem grossar­tig geformte Steine fand, neb­st ein­fachem Quarz etwa faust­grosse Stücke des weis­sen, mit gold­far­ben­em Pyrit über­zo­ge­nen Zuck­er­dolomit, oder die schwarzen, etwa fuss­grossen Stücke, die auf der Ober­seite über und über mit kleinen, eben­falls schwarzen, glänzen­den, länglichen Kristal­lzylin­dern über­säht waren, ver­mut­lich Jor­dan­iten. Das waren alles zwar nicht beson­ders wertvolle, aber doch ansehn­liche Stücke, die ich mir als Andenken mit nach Hause genom­men hatte.

Im näch­sten Früh­ling baute ich mir eine kleine Holzhütte hin­ten im Garten, direkt neben dem Sand­haufen, und spielte darin “Verkäuferlis”. Die Aus­lage bestand aus den oben beschriebe­nen Andenken an die Bin­ntal-Ferien. Irgend­wann im Laufe des Nach­mit­tags kam Kevin* vor­bei, der ein paar Häuser weit­er wohnte. Ich hat­te mit Kevin keinen beson­ders engen Kon­takt, dafür wohnte er schon zu weit weg. Es waren vor allem die Kinder aus den an meinem Eltern­haus vor­beiführen­den bei­den Strassen, mit denen ich regelmäs­sig spielte, Kevin aus der Par­al­lel­strasse war ein nur spo­radis­ch­er Spielka­m­er­ad. Ausser­dem hat­te er einen Makel: Wie es immer wieder mit grossem Bedauern hiess, waren seine Eltern geschieden und er lebte bei Mut­ter und Stief­vater. Es gin­gen sog­ar Gerüchte, dass Kevin manch­mal vom Stief­vater geschla­gen wurde.

Aber wie auch immer, ich freute mich jeden­falls sehr, dass mich Kevin in meinem “Verk­läuferliladen” besuchte und die Aus­la­gen bewun­derte. Er fragte mich dies und jenes über die schö­nen Steine und zeigte reges Inter­esse. Bald schlug er vor, mir einen solchen Stein abzukaufen. Über eigenes Geld ver­fügten wed­er Kevin noch ich, das war klar, und daher kon­nte er mir nur ein Tauschgeschäft anbi­eten. Als ich ihn fragte, was er mir denn im Tausch gegen einen solch hüb­schen Stein anbi­eten würde, zog er eine Stop­puhr aus der Tasche. Ein eben­falls hüb­sches mech­a­nis­ches Mod­ell mit einem Klap­pdeck­el und zwei Knöpfen oben und auf der Seite, bei deren Betä­ti­gung der Zeiger loslief oder stoppte, oder wieder auf Null zurück­gestellt wurde. Dieses mech­a­nis­che Ding faszinierte mich sehr, und bald schon waren wir uns han­del­seinig: Zwei mein­er schön­sten Steine gegen seine Stop­puhr. Den Rest des Nach­mit­tags ver­gass ich meinen Laden und spielte nur noch mit der Stop­puhr und mass ver­schieden­ste Zeit­en für mehr oder weniger sportliche Aktiv­itäten, die mir grade in den Sinn kamen.

Nach etwa ein­er Stunde kam die Mut­ter auf die Ter­rasse, um mir einen z’Vieri anzu­bi­eten. So ganz neben­bei fragte sie mich, wom­it ich denn da spie­len täte und woher ich die Stop­puhr habe. Ich erzählte ihr wahrheits­gemäss, dass ich sie in einem fairen Tauschhan­del gegen zwei Bin­ntal­steine von Kevin bekom­men habe. Sie stutzte einen Moment und meinte, das könne nicht sein. Sie nahm mir die Uhr weg und ging damit ins Haus hinein. Ich zuck­te mit den Schul­tern und begann, jet­zt wo ich die Stop­puhr nicht mehr hat­te, mich wieder um meinen Laden zu kümmern.

Beim Aben­dessen verkün­dete Mut­ter vor Vater und mir, dass sie ein biss­chen rumtele­foniert habe und dass ich offen­bar zwei Stop­puhren mit Kevin zusam­men aus der nahegele­ge­nen Turn­halle Bären­mat­te gestohlen hätte. Die andere Stop­puhr habe Kevins Mut­ter in seinem Zim­mer gefun­den. Mein Lehrer Aeschbach habe bestätigt, dass die bei­den Stop­puhren aus der Bären­mat­te stammten und dass sie dort fehlten. Meinen Ein­wand, dass ich von dem Dieb­stahl nichts gewusst habe und dass ich nur einen legit­i­men Tauschhan­del gemacht hätte, wis­chte sie mit einem verknif­f­e­nen Lächeln bei­seite und meinte nur, behaupten könne ich ja vieles. Sie werde die bei­den Stop­puhren noch am sel­ben Abend Lehrer Aeschbach übergeben, über eine gerechte Strafe für Kevin und mich müssten sie noch nachdenken.

Am näch­sten Tag in der Schule wollte auch Lehrer Aeschbach nichts von mein­er Ver­sion der Geschichte wis­sen. Kevin war zwar nicht sein Schüler, aber er hat­te trotz­dem eine gute Idee für eine Bestra­fung für uns. Dank der Aufmerk­samkeit mein­er Mut­ter sei der Schaden ja ger­ing, weshalb man es beim “Tannli set­zen” während der näch­sten Ferien bewen­den lassen könne. Das würde uns bei­den gut tun. Meine Eltern fan­den das eine grossar­tige Idee, Ein­spruch oder Wider­stand war zwecklos.

Nun, mit dem “Tannli set­zen” hat­te es fol­gen­des auf sich: Der Gemein­de­förster hat­te diverse Wald­stücke zu pfle­gen, und an ein­er Ecke der Gemeinde befand sich eine Baum­schule, in der er junge Bäume pflegte und, wenn sie gross und stark genug waren, wiederum an einem geeigneten Ort in die Wälder set­zte. Das gab jew­eils viel zu tun, beson­ders im Früh­ling, und das war eine Gele­gen­heit für Mat­u­ran­den und Stu­den­ten, während der Semes­ter­fe­rien ein kleines Zubrot zu ver­di­enen. Nun, in diesem beson­deren Fall musste ich also während der Früh­lings­fe­rien zwei Wochen lang in die Baum­schule, junge Tan­nen set­zen und pfle­gen gehen. Das war für mich eine ziem­liche Her­aus­forderung, weil der Weg dor­thin für meine Begriffe lang war, und, während der Ferien beson­ders ungeliebt, der Arbeits­be­ginn früh war. Als ich also am ersten Feri­en­tag um 7 Uhr dort aufkreuzte staunte der Förster über so einen jun­gen Arbeit­er, aber er war informiert wor­den über diese Straf­mass­nahme und beschäftigte mich mit leicht­en Arbeit­en. Ich staunte sel­ber aber noch vielmehr darüber, dass Kevin nicht aufkreuzte. Ich sah ihn die ganzen zwei Wochen kein einziges Mal. Sel­ber schuftete ich von 7 Uhr bis 17 Uhr auf den Feldern, zwar schon mit ein­er grosszügi­gen Mit­tagspause, aber solch kör­per­liche Arbeit war ich mir nicht gewohnt und kam dementsprechende erschöpft jew­eils Abends nach Hause. Am let­zten Arbeit­stag ver­ab­schiedete mich der Förster her­zlich und sagte, einen solch fleis­si­gen jun­gen Mann habe er schon lange nicht mehr bei sich gehabt. Er wisse schon, dass es sich um eine Straf­mass­nahme gehan­delt habe, aber ins­beson­dere in Anbe­tra­cht der Tat­sache, dass ich ohne zu mur­ren so schw­er gear­beit­et habe, werde er mir den üblichen Lohn für diese Arbeit auszahlen. Allerd­ings könne er ihn mir nicht ein­fach so mit­geben, da ich ja min­der­jährig sei, son­dern werde ihn mit einem Brief an meine Eltern auszahlen lassen. Mein Herz machte einen Sprung vor Freude, denn da hat­te sich doch die mein­er Mei­n­ung nach unver­di­ente Plack­erei am Ende doch noch gelohnt. Ich hat­te also doch noch etwas davon, dass ich so ehrlich gewe­sen war in der Stop­puhrsache, und deswe­gen unver­di­ent so hart bestraft wurde.

Nun, am Mon­tag begann die Schule wieder und ich ver­gass meinen Lohn vor­erst, bis nach ein paar Tagen, als ich von der Schule kam und Vater und Mut­ter am Esstisch sassen und mich auf­forderten, mich zu set­zen. Mut­ter hat­te einen Briefum­schlag in der Hand. Sie erk­lärte, dass der Brief vom Förster sei. Dass er meine Arbeit lobe und dass er mir dafür einen Lohn aus­bezahle. Jet­zt hät­ten sie aber ein Prob­lem. Es könne nicht ange­hen, dass ich aus ein­er Strafe noch Prof­it beziehe. Deshalb könne ich das Geld nicht haben. Ich hätte ja auch gar keine Ver­wen­dung für so viel Geld, da ich ja noch gar nie so viel Geld auf ein­mal in der Hand gehabt hätte. Ich erin­nere mich nur vage, aber es ging, glaube ich, um unge­fähr 170 Franken. Vater und sie hät­ten beschlossen, das Geld einem guten Zweck zu spenden.

Ich schluck­te schw­er und ging in mein Zim­mer. Das fühlte sich grade ver­dammt Scheisse an. Nicht nur dass mir meine Mut­ter die Wahrheit über den Tauschhan­del nicht glauben wollte, ich war auch noch der einzige, der bestraft wurde. Über die Gründe von Kevins Abwe­sen­heit beim Förster hat­te ich nie etwas erfahren. Als ich diese Ungerechtigkeit gegenüber meinen Eltern beklagte, sagten sie nur, dafür seien sie nicht zuständig, sie gin­ge nur meine Erziehung etwas an. Und zu guter let­zt durfte ich nicht ein­mal den sauer erar­beit­eten Lohn behalten.

Diese Ungerechtigkeit und dieser Frust hat mich noch viele Jahre in meinem Leben ver­fol­gt. Es ist ein Beispiel gut­ge­mein­ter Arro­ganz und fehlgeleit­eter erzieherisch­er Absicht­en von Eltern.

*Alle Namen sind geän­dert, um die Schuldigen zu schützen.

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