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Lügen, die wir Kindern erzählen

Paul Gra­ham hat diesen grossar­ti­gen Essay geschrieben, der mir der­art gut gefällt, dass ich ihn auf Deutsch über­set­zt und hier pub­liziert habe. Das Orig­i­nal ist hier zu finden.

Mai 2008: Lügen, die wir Kindern erzählen (Paul Graham)

Erwach­sene lügen Kinder dauernd an. Ich sage nicht, dass wir damit aufhören sollen. Aber wir soll­ten zumin­d­est genau anschauen, welche Lügen wir unseren Kindern erzählen und warum.

Darin kön­nte auch für uns ein Vorteil liegen. Als Kinder wur­den wir alle bel­o­gen, und einige der Lügen, die uns erzählt wur­den, bee­in­flussen uns bis heute. Daher: Indem wir die Arten unter­suchen, wie Erwach­sene Kinder anlü­gen, schaf­fen wir es vielle­icht, unseren Kopf von den Lügen, die uns selb­st erzählt wur­den, zu befreien.

Ich benutze das Wort “Lüge” in sehr all­ge­meinem Sinn. Nicht nur offene Unwahrheit, son­dern auch die sub­til­eren Arten, wie wir Kinder in die Irre führen. Obwohl “Lüge” neg­a­tive Kon­no­ta­tio­nen hat, will ich nicht sagen, dass wir das niemals tun dür­fen — nur dass wir uns genau über­legen soll­ten, wann und warum wir es tun. [1]


Etwas vom Bemerkenswertesten daran, wie wir Kinder belü­gen, ist, wie bre­it die Ver­schwörung ist. Alle Erwach­se­nen wis­sen, worüber ihre Kul­tur Kinder belügt: Es sind diejeni­gen Fra­gen, auf die du “Frage deine Eltern” antwortest. Wenn dich ein Kind fragt, wer die WM 1982 gewon­nen hat, oder welch­es das Atom­gewicht von Kohlen­stoff ist, dann kön­ntest du es ihm ein­fach sagen. Wenn ein Kind hinge­gen fragt: “Gibt es einen Gott?” oder “Was ist eine Pros­ti­tu­ierte?” dann wirst du wahrschein­lich sagen “Frag deine Eltern.”

Da wir uns alle einig sind, sehen Kinder kaum Lück­en in der Sicht der Welt, wie sie ihnen darge­boten wird. Die grössten Wider­sprüche gibt es zwis­chen Eltern und Schulen, aber selb­st die sind eher ger­ingfügig. Schulen sind vor­sicht in dem, was sie über kon­tro­verse The­men sagen, und falls sie tat­säch­lich dem wider­sprechen, was die Eltern ihre Kinder glauben machen wollen, dann wer­den sie von den Eltern unter Druck geset­zt, zu schweigen, oder die Eltern schick­en ihre Kinder schlicht auf eine andere Schule.

Die Ver­schwörung ist der­art dicht gewoben, dass die meis­ten Kinder, die sie ent­deck­en, dies nur deswe­gen schaf­fen, weil sie innere Wider­sprüche aufdeck­en in dem, was ihnen erzählt wird. Es kann trau­ma­tisch sein für diejeni­gen, die während der Oper­a­tion aufwachen. So hat es Ein­stein erlebt:

Durch die Lek­türe von pop­ulären wis­senschaftlichen Büch­ern kam ich zu der Erken­nt­nis, dass vieles von dem, was in der Bibel ste­ht, schlicht nicht stim­men kann. Die Kon­se­quenz war ein pos­i­tives, fanatis­ches Frei­denken, gekop­pelt mit dem Ein­druck, dass die Jugend absichtlich vom Staat durch Lügen getäuscht wird: Das war ein nieder­schmettern­der Ein­druck. [2]

Ich erin­nere mich an dieses Gefühl. Um 15 war ich überzeugt davon, dass Welt von A bis Z kor­rupt ist. Deshalb haben Filme wie Die Matrix so viel Res­o­nanz. Jedes Kind wächst in ein­er vor­getäuscht­en Welt auf. Es wäre irgend­wie ein­fach­er, wenn die dahin­ter­ste­hen­den Kräfte so klar dif­feren­ziert wer­den kön­nten wie ein Haufen teu­flis­ch­er Maschi­nen, und wenn man einen sauberen Schnitt machen kön­nte, indem man die blaue Pille schluckt.

Schutz

Wenn man Erwach­sene fragt, warum sie Kinder anlü­gen, dann ist der meist­ge­hörte Grund der, dass sie sie beschützen wollen. Und Kinder müssen geschützt wer­den. Die Umge­bung, die du für ein Neuge­borenes auf­baust, wird sehr anders ausse­hen als die Strassen ein­er Grossstadt.

Das scheint so offen­sichtlich zu sein, dass es auch falsch erscheint, es eine Lüge zu nen­nen. Es ist bes­timmt keine schlechte Lüge, einem Baby den Ein­druck zu ver­mit­teln, dass die Welt still und warm und sich­er ist. Doch diese harm­lose Art Lüge kann sauer wer­den, wenn sie unüber­prüft bleibt.

Stellen Sie sich vor, wenn sie jeman­den in ein­er der­art beschützten Umge­bung bewahren bis er 18 ist. Jeman­den der­art über die Natur der Welt zu täuschen erscheint weniger als Schutz denn als Miss­brauch. Das ist natür­lich ein extremes Beispiel. Wenn Eltern etwas der­ar­tiges tun, dann kommt es in allen Zeitun­gen. Aber man sieht das­selbe Prob­lem in kleinerem Massstab im Malaise, das Teenag­er in der Vorstadt fühlen.

Der Hauptzweck von Vorstädten ist es, eine geschützte Umge­bung zu bilden, in der Kinder aufwach­sen kön­nen. Und es scheint grossar­tig zu sein für 10-jährige. Ich liebte es, in der Vorstadt zu leben, als ich 10 war. Ich merk­te damals nicht, wie ster­il es war. Meine Welt war nicht gröss­er als bis zu den Häusern der paar Fre­unde, dich ich mit dem Fahrrad besuchte, und der paar Wäld­chen, in denen ich herum­stre­unte. Im grossen Massstab gese­hen war ich irgend­wo zwis­chen Krippe und Globus. Eine Vorstadt­strasse hat­te genau die richtige Grösse. Aber je älter ich wurde, desto mehr fühlte sich die Vorstadt erstick­end falsch an.

Das Leben kann mit 10 oder 20 ziem­lich gut sein. Aber mit 15 ist es häu­fig äusserst frus­tri­erend. Dieses Prob­lem ist zu gross, um hier gelöst zu wer­den, aber ein­er der Gründe, weshalb das Leben für einen 15-jähri­gen schreck­lich ist, ist sicher­lich, dass er in ein­er Welt, die für 10-jährige gemacht ist, gefan­gen ist.

Wovor, hof­fen Eltern, kön­nen sie ihre Kinder beschützen, indem sie sie in ein­er Vorstadt aufwach­sen lassen? Eine Fre­undin, die Man­hat­tan ver­liess, sagte dazu ein­fach, dass ihre 3‑jährige Tochter “zuviel gese­hen” habe. Spon­tan fällt mir dazu ein: Leute, die betrunk­en oder unter Dro­gen sind, Armut, Wahnsinn, grauen­volle medi­zinis­che Bedin­gun­gen, sex­uelles Ver­hal­ten unter­schiedlichen Grades von Selt­samkeit, und gewalt­tätige Wut.

Ich denke, es wäre die Wut, die mir am meis­ten Sor­gen machen würde, hätte ich einen Drei­jähri­gen. Ich war 29 als ich nach New York zog. Und selb­st dann war ich über­rascht. Ich möchte nicht, dass ein Drei­jähriger einige der Stre­it­ereien mitanse­hen muss, die ich miter­lebte. Es wäre zu furchter­re­gend. Viele der Dinge, die Erwach­sene vor Kindern ver­bor­gen hal­ten, hal­ten sie deswe­gen fern von ihnen, weil sie furchter­re­gend sind, nicht weil sie deren Exis­tenz geheim hal­ten wollen. Das Kind in die Irre zu führen ist nur ein Nebenprodukt.

Dies scheint eine der berechtigt­sten Lügen zu sein, die Erwach­sene gegenüber Kindern anwen­den. Aber da die Lügen indi­rekt sind, führen wir nicht so genau Buch darüber. Eltern wis­sen sehr wohl, dass sie ihren Kindern die Fak­ten über Sex voren­thal­ten haben, und manch­mal set­zen sie sich auch mit ihren Kindern hin und erk­lären ihnen mehr. Aber nur wenige erzählen ihren Kindern die Unter­schiede zwis­chen der realen Welt und dem Kokon, in dem sie aufgewach­sen sind. Dies, kom­biniert mit dem Selb­st­wert­ge­fühl, das Eltern gerne ihren Kindern anerziehen, führt dazu, dass jedes Jahr eine neue Ernte von 18-jähri­gen her­an­wächst, die denken, sie wüssten, wie der Hase läuft und die Welt gehöre ihnen.

Denken nicht alle 18-jähri­gen, sie wüssten wie die Welt am Besten zu funk­tion­ieren habe? Genau genom­men ist dies ein eher junges Phänomen, nicht älter als etwa 100 Jahre. In der vorindus­triellen Zeit waren Teenag­er Junior­mit­glieder der Erwach­se­nen­welt und sich ver­gle­ich­sweise ihrer Defizite ziem­lich gut bewusst. Sie kon­nten klar sehen, dass sie nicht so stark oder geschickt waren wie der Dorf­schmied. In ver­gan­genen Zeit­en haben die Leute über gewisse Dinge mehr gel­o­gen zu ihren Kindern als wir heute. Aber diejeni­gen Lügen, die impliz­it in ein­er beschützten, kün­stlichen Umwelt enthal­ten sind, sind eine neue Erfind­ung. Wie viele neue Erfind­un­gen, haben die Reichen sie sich zuerst angeeignet. Kinder von Köni­gen und grossen Mag­nat­en sind die ersten, die ohne jeden Kon­takt zur Welt aufgewach­sen sind. Vorstädte bedeuten, dass die halbe Bevölkerung in dieser Beziehung wie Könige leben kann.

Sex (und Drogen)

Ich hätte andere Sor­gen, wenn ich meine Teenage-Kinder in New York aufwach­sen sehen müsste. Ich würde mich weniger um das sor­gen, was sie sehen, son­dern vielmehr um das, was sie tun kön­nten. Ich bin mit vie­len Jungs ins Col­lege gegan­gen, die in Man­hat­ten aufgewach­sen waren, und im all­ge­meinen schienen sie ziem­lich abges­tumpft zu sein. Sie schienen ihre Unschuld mit unge­fähr 14 ver­loren zu haben, und bis zum Col­lege hat­ten sie mehr Dro­gen pro­biert, als ich je davon gehört hatte.

Die Gründe, warum Eltern nicht wollen, dass ihre Kinder Sex haben, sind kom­plex. Es gibt einige offen­sichtliche Gefahren: Schwanger­schaft und Geschlecht­skrankheit­en. Aber das sind nicht die einzi­gen Gründe, weshalb Eltern nicht wollen, dass ihre Kinder Sex haben. Die durch­schnit­tlichen Eltern ein­er 14-jähri­gen wür­den die Idee, dass sie Sex hat, has­sen, selb­st wenn es kein­er­lei Risiko von Schwanger­schaft oder Geschlecht­skrankheit­en gäbe.

Was genau ist es denn, was Eltern so sehr am Gedanken stört, ihre Kinder kön­nten Sex haben? Ihre Abnei­gung dage­gen ist der­massen stark, dass sie wahrschein­lich ange­boren ist. Aber wenn es ange­boren ist, dann sollte es uni­ver­sal sein. Es gibt jedoch genü­gend Gesellschaften, in denen die Eltern kein Prob­lem mit Teenage-Sex haben — wo es sog­ar nor­mal ist, dass 14-jährige Müt­ter wer­den. Was also geht hier vor? Es scheint ein uni­verselles Tabu zu geben gegen Sex mit vor­pu­bertären Kindern. Dafür kann man sich evo­lu­tionäre Gründe vorstellen. Und ich denke, dass dies der Haupt­grund ist für die Abnei­gung von Eltern in indus­tri­al­isierten Gesellschaften dage­gen ist, dass ihre Teenage-Kinder Sex haben. Sie denken immer noch, sie seien Kinder, obwohl sie es biol­o­gisch gese­hen nicht mehr sind, weswe­gen das Tabu gegen Sex mit Kindern immer noch wirkt.

Etwas ver­ber­gen Eltern am Sex genau­so wie an den Dro­gen: Dass sie gross­es Vergnü­gen bere­it­en kön­nen. Das ist das, was Sex und Dro­gen so gefährlich macht. Das Begehren danach kann einem die Sinne vernebeln und das Urteilsver­mö­gen ein­schränken — was beson­ders beängsti­gend ist, wenn es sich dabei um das, gelinde gesagt, noch nicht sehr aus­geprägte Urteilsver­mö­gen eines Teenagers handelt.

Wenn Eltern ihren Kindern die Wahrheit über Sex und Dro­gen ver­rat­en wür­den, dann wäre sie: Der Grund, weshalb du diese Dinge ver­mei­den sollst, ist dein lausiges Urteilsver­mö­gen. Leute mit dop­pelt so viel Erfahrung wie du ver­bren­nen sich immer noch damit. Doch dies wird ein­er der Fälle sein, wo die Wahrheit wenig Ãœberzeu­gungskraft hat, weil eines der Merk­male schlecht­en Urteilsver­mö­gens ist es, zu glauben, man hätte gutes. Wenn du zu schwach bist, etwas zu heben, dann merkst du das. Doch wenn du eine heftige Entschei­dung triff­st, bist du dir dessen nur umso sicherer.

Unschuld

Ein weit­er­er Grund, weshalb Eltern nicht wollen, dass ihre Teenage-Kinder Sex haben, ist der, dass sie wollen, dass sie unschuldig bleiben. Erwach­sene haben eine bes­timmte Vorstel­lung davon, wie sich Kinder ver­hal­ten sollen, und die sieht anders aus als bei Erwachsenen.

Ein­er der offen­sichtlich­sten Unter­schiede bezieht sich auf die Worte, die Kinder benutzen dür­fen. Die meis­ten Eltern benutzen, wenn sie mit anderen Erwach­se­nen sprechen, Worte, von denen sie nicht möcht­en, dass ihre Kinder sie in den Mund nehmen. Sie ver­suchen sog­ar die Exis­tenz dieser Wörter vor ihren Kindern so lange es geht zu ver­heim­lichen. Und das ist auch so eine Ver­schwörung, an der alle teil­haben: Jed­er weiss, dass man nicht vor Kindern fluchen soll.

Nie habe ich unter­schiedlichere Erk­lärun­gen gehört als dann, als es darum ging, den Kindern zu erk­lären, warum sie nicht fluchen sollen. Jed­er Vater, jede Mut­ter die ich kenne ver­bi­etet seinen Kindern das Fluchen, und doch haben keine zwei diesel­ben Begrün­dung. Es ist ganz klar: Die meis­ten fan­gen damit an, ihren Kindern das Fluchen zu ver­bi­eten. Und erst danach leg­en sie sich eine Begrün­dung zurecht.

Deshalb ist meine The­o­rie, dass die Funk­tion des Fluchens ist, den Sprech­er als Erwach­se­nen zu kennze­ich­nen. Es keinen bedeut­samen Unter­schied zwis­chen “Scheisse” und “Pupu”. Warum also soll das eine für den kindlichen Sprachge­brauch in Ord­nung sein und das andere ver­boten? Die einzige Erk­lärung lautet: Per Def­i­n­i­tion. [3]

Warum stört es Erwach­sene so sehr wenn Kinder Dinge tun, die Erwach­se­nen vor­be­hal­ten sind? Die Vorstel­lung eines unfläti­gen, zynis­chen 10-jähri­gen, der sich mit ein­er Zigaret­tenkippe läs­sig aus dem Mund­winkel hän­gend an einen Lat­er­nenpfahl lehnt ist sehr beun­ruhi­gend. Aber warum?

Der Grund weshalb wir unsere Kinder unschuldig wollen ist der, dass wir darauf pro­gram­miert sind, gewisse Arten von Hil­flosigkeit zu mögen. Bei mehreren Gele­gen­heit­en habe ich Müt­ter sagen gehört, dass sie bewusst darauf verzichtet haben, falsche Aussprachen ihrer Kleinkinder zu kor­rigieren, weil sie so niedlich seien. Und wenn man darüber nach­denkt, dann bedeutet Niedlichkeit nichts anderes als Hil­flosigkeit. Spielzeuge und Zeichen­trick­fig­uren, die niedlich sein sollen, haben immer diesen ahnungslosen Gesicht­saus­druck und unter­set­zte, untaugliche Gliedmassen.

Es ist keine Ãœber­raschung, dass wir eine ange­borene Sehn­sucht haben, hil­flose Krea­turen zu lieben und zu beschützen, angesichts dessen, dass men­schliche Sprösslinge tat­säch­lich so lange Zeit der­massen hil­f­los sind. Ohne die Hil­flosigkeit, die Kinder niedlich macht, wären sie äusserst lästig. Dann wür­den sie bloss wie inkom­pe­tente Erwach­sene wirken. Aber da steckt noch mehr dahin­ter. Der Grund, weshalb mich der hypo­thetis­che abges­tumpfte 10-jährige so stört, ist nicht nur, dass er dann lästig wäre, son­dern dass er so früh seine Wach­s­tum­saus­sicht­en beschnit­ten hätte. Um abges­tumpft zu sein, muss man denken, man wisse, wie die Welt funk­tion­iert, und jede The­o­rie, die ein 10-jähriger dies­bezüglich haben kön­nte, wird wahrschein­lich ziem­lich eingeschränkt sein.

Unschuld ist also auch Aufgeschlossen­heit. Wir wollen, dass Kinder unschuldig sind, damit sie weit­er­hin ler­nen kön­nen. So para­dox es klingt, es gibt Arten von Wis­sen, die anderen Arten von Wis­sen in die Quere kommt. Wenn du ler­nen wirst, dass die Welt ein bru­taler Ort ist, voller Men­schen, die ver­suchen, einan­der zu über­vorteilen, dann soll­test du das bess­er erst als let­ztes ler­nen. Anderen­falls wird dich weit­eres Ler­nen kaum noch interessieren.

Sehr gescheite Erwach­sene scheinen häu­fig ungewöh­ntlich unschuldig, und ich denke nicht, dass das ein Zufall ist. Ich denke, dass diese Men­schen bewusst gewisse Dinge zu ler­nen ver­mieden haben. Ich sel­ber ganz bes­timmt. I dachte mal, dass ich alles wis­sen will. Heute weiss ich, dass dem nicht so ist.

Tod

Nach dem Sex ist der Tod das The­ma, über das Erwach­sene am ver­schwörerischsten lügen gegenüber Kindern. Sex, denke ich, ver­steck­en sie auf­grund tief­sitzen­der Tabus. Aber warum ver­steck­en wir den Tod vor den Kindern? Wahrschein­lich deswe­gen, weil kleine Kinder von ihm beson­ders entset­zt sind. Sie wollen sich sich­er fühlen, und der Tod ist die fürchter­lich­ste Bedro­hung, die es gibt.

Eine der spek­takulärsten Lügen, die uns unsere Eltern vorset­zten, ging um den Tod unser­er ersten Katze. Ãœber die Jahre, während wir nach mehr Details fragten, mussten sie immer mehr hinzuerfind­en, und so wuchs sich die Geschichte zu etwas ziem­lich aus­gek­lügel­tem aus. Die Katze starb in der Tier­arzt­prax­is. Woran? An der Anäs­the­sie. Warum war die Katze beim Tier­arzt? Um zu gesun­den. Und warum hat­te sie ein solch­er Rou­ti­nee­in­griff umge­bracht? Es war nicht der Fehler des Tier­arztes; die Katze hat­te ein ange­borenes schlecht­es Herz; die Anäs­the­sie war zu stark für sie; aber das hat­te kein­er im voraus wis­sen kön­nen. Erst als wir unsere zwanziger erre­icht hat­ten, kam die Wahrheit ans Tages­licht: Meine Schwest­er, damals etwa drei, war verse­hentlich auf sie draufge­treten und hat­te ihr den Rück­en gebrochen.

Sie hat­ten nicht das Bedürf­nis, uns zu sagen, dass die Katze nun glück­lich war im Katzen­him­mel. Meine Eltern haben nie behauptet, dass ver­stor­bene Men­schen oder Tiere “an einen besseren Ort gegan­gen” seien, oder dass wir ihnen wieder begeg­nen wür­den. Das schien uns nicht geschadet zu haben.

Meine Gross­mut­ter erzählte uns eine redigierte Ver­sion des Todes meines Gross­vaters. Sie sagte, sie eines Tages lesend nebeneinan­der gesessen, und als sie etwas zu ihm sagte, hätte er keine Antwort gegeben. Er schien zu schlafen, aber als sie ihn zu weck­en ver­suchte, schaffte sie das nicht. “Er war weg.” Einen Herzan­fall zu haben klang nach ein­schlafen. Später hörte ich, dass es nicht ganz so nett war, und dass der Herzan­fall fast den ganzen Tag gebraucht hat­te, um ihn umzubringen.

Neb­st solch unverblümten Lügen muss es auch jede Menge The­men­wech­sel gegeben haben, wenn die Sprache auf den Tod kam. Ich erin­nere mich daran natür­lich nicht, aber ich leite es aus der Tat­sache ab, dass ich nicht wirk­lich kapierte, dass auch ich irgend­wann ster­ben würde, bis ich unge­fähr 19 war. Wie kon­nte ich etwas der­art offen­sichtlich­es so lange Zeit ver­passen? Jet­zt, wo ich Eltern dabei erlebe, wie sie mit dem The­ma umge­hen, sehe ich, wie: Fra­gen über den Tod wer­den san­ft, aber fest abgewehrt.

Beson­ders bei diesem The­ma kom­men ihnen die Kinder auf halbem Weg ent­ge­gen. Kinder wollen öfter angel­o­gen wer­den. Sie wollen glauben, dass sie in ein­er angenehmen, sicheren Welt leben, genau so sehr wie ihre Eltern möcht­en, dass sie das glauben. [4]

Identität

Manche Eltern fühlen eine starke Zuge­hörigkeit zu ein­er bes­timmten Eth­nie oder religiösen Gruppe, und wollen, dass ihre Kinder sich eben­falls zuge­hörig fühlen. Dies erfordert üblicher­weise zwei Arten von Lügen: Das erste ist, dass dem Kind gesagt wird, er oder sie sei ein X, und das zweite ist, was auch immer für Spez­i­fi­ka die Xe glauben, was sie von anderen unter­schei­det. [5]

Einem Kind zu sagen, was es für eine beson­dere eth­nis­che oder religiöse Iden­tität habe, ist etwas vom lan­gan­haf­tend­sten, was man ihnen sagen kann. Fast alles andere, was du einem Kind erzählst, kann das Kind sel­ber ändern wenn es ein­mal anfängt, sel­ber zu denken. Aber wenn du einem Kind sagst, es gehöre zu ein­er bes­timmten Gruppe, dann scheint dies fast unmöglich zu erschüt­tern zu sein.

Dies trotz der Tat­sache, dass dies eine der vorsät­zlich­sten Lügen sein kann, die Eltern erzählen. Wenn Eltern von unter­schiedlich­er Reli­gion sind, dann eini­gen sie sich häu­fig, dass ihre Kinder “als Xe erzo­gen” wer­den. Und es funk­tion­iert. Die Kinder wach­sen fol­gsam auf und betra­cht­en sich als Xe, trotz der Tat­sache, dass, wenn sich seine Eltern anders entsch­ieden hät­ten, sie aufgewach­sen wären im Glauben, sie seien Ye.

Ein Grund, warum dies so gut funk­tion­iert, ist die zweite Art Lüge. Die Wahrheit ist All­ge­meingut. Du kannst dich und deine Gruppe nicht abgren­zen, indem ihr ratio­nale Dinge tut, und indem ihr Dinge glaubt, die wahr sind. Wenn du dich von anderen Men­schen abset­zen willst, dann musst du Dinge tun, die willkür­lich sind, und Dinge glauben, die falsch sind. Und nach­dem sie ihr ganzes Leben damit ver­bracht haben, Dinge zu tun, die willkür­lich sind, und Dinge zu glauben, die falsch sind, und von “Aussen­seit­ern” dies­bezüglich als son­der­bar betra­chtet wor­den zu sein, muss die kog­ni­tive Dis­so­nanz, die dazu treibt, Kinder dazu zu brin­gen, sich als Xe zu betra­cht­en, riesig sein. Wenn sie kein X sind, warum hän­gen sie dann an all diesen willkür­lichen Glaubenssätzen und Gebräuchen?‘Wenn sie kein X sind, warum wer­den sie dann von allen nicht‑X so genannt?

Diese Form der Lüge ist nicht ohne Nutzen. Man kann sie dazu ein­set­zen, eine ganze Ladung nüt­zlichen Glaubens zu über­tra­gen, und diese wird dazu noch ein Teil der kindlichen Iden­tität wer­den. Du kannst dem Kind sagen, dass, abge­se­hen davon dass sie niemals gelb tra­gen, zu glauben, die Welt sei von einem Riesen­hasen erschaf­fen wor­den, vor dem Fisch essen immer mit den Fin­gern zu schnalzen, seien Xe ausser­dem beson­ders ehrlich und fleis­sig. Dann wach­sen X‑Kinder mit dem Glauben auf, zu ihrer Iden­tität gehöre Ehrlichkeit und Fleiss.

Dies ist ver­mut­lich der Grund, weshalb sich die mod­er­nen Reli­gio­nen der­massen aus­ge­bre­it­et haben, und erk­lärt, warum ihre Dok­trin eine Kom­bi­na­tion des Nüt­zlichen und des Bizarren ist. Das Bizarre ist jene Hälfte, die dafür sorgt, dass die Reli­gion haften bleibt, und die Nüt­zliche Hälfte ist die Ladung. [6]

Autorität

Ein­er der am wenig­sten entschuld­baren Gründe, dass Erwach­sene Kinder anlü­gen, ist, Macht über sie zu haben. Manch­mal sind diese Lügen echt böse, wie etwa wenn der Belästiger dem Kind sagt, dass es Ärger kriegt, wenn es jeman­dem erzählt, was ihm ger­ade zugestossen ist. Andere scheinen unschuldiger. Es hängt davon ab, wie schlimm Erwach­sene lügen um ihre Macht zu bewahren, und wozu sie diese Macht einsetzen.

Die meis­ten Erwach­se­nen machen gewisse Bemühun­gen, ihre Schwächen vor Kindern zu ver­steck­en. Gewöhn­lich sind ihre Motive gemis­cht. Zum Beispiel ver­steckt ein Vater, der eine Affäre hat, diese Tat­sache gewöhn­lich vor seinen Kindern. Seine Moti­va­tion ist teil­weise, dass ihnen das Angst machen würde, teil­weise weil dies zum The­ma Sex­u­al­ität führen würde, und teil­weise (und zwar zu einem grösseren Teil als er gerne zugeben würde), weil er sich vor ihnen keine Blösse geben will.

Wenn du ler­nen willst, welche Art von Lügen Kindern erzählt wer­den, dann musst di fast alle diese Büch­er lesen, die mit der Absicht geschrieben wur­den, ihnen “The­men” beizubrin­gen. [7] Peter Mayle hat eines geschrieben mit dem Titel Warum lassen wir uns schei­den? Es begin­nt mit den drei wichtig­sten Din­gen ein­er Schei­dung. Eines davon ist:

Du soll­test nie einem einzi­gen Eltern­teil die Schuld geben, weil eine Schei­dung nie nur der Fehler ein­er einzi­gen Per­son ist. [8]

Tat­säch­lich? Wenn ein Mann mit sein­er Sekretärin durch­bren­nt, ist es dann immer auch zum Teil die Schuld sein­er Frau? Aber ich kann dur­chaus sehen, warum Mayle dies gesagt hat. Vielle­icht ist es wichtiger, dass Kinder ihre Eltern respek­tieren, als dass sie die Wahrheit über sie wissen.

Aber weil Erwach­sene ihre Schwächen ver­steck­en, und weil sie gle­ichzeit­ig auf hohen Ver­hal­tens­stan­dards für Kinder beste­hen, wach­sen viele Kinder mit dem Gefühl auf, hoff­nungslose Defizite zu haben. Sie laufen mit furcht­baren Schuldge­fühlen herum, weil sie mal wieder ein Fluchwort benutzt haben, während in der Tat die meis­ten Erwach­se­nen um sie herum noch viel schlim­mere Dinge tun.

Dies geschieht sowohl in intellek­tuellen, als auch in moralis­chen Fra­gen. Je selb­st­be­wusster die Leute sind, desto mehr scheinen sie die Frei­heit zu haben, eine Frage mit “Ich weiss nicht” zu beant­worten. Weniger selb­st­be­wusste Men­schen denken, dass sie unbe­d­ingt eine Antwort geben müssten, weil sie son­st schlecht daste­hen wür­den. Meine Eltern waren ziem­lich gut darin, zuzugeben, wenn sie etwas nicht wussten, aber mir müssen ziem­lich viele solch­er Lügen aufgetis­cht wor­den sein von Lehrern, weil ich sel­ten einen Lehrer habe “das weiss ich nicht” sagen hören, bis ich ins Col­lege ging. Ich erin­nere mich so genau daran, weil es so über­raschend war, jemand dies vor der ganzen Klasse sagen zu hören.

Den ersten Hin­weis darauf, dass Lehrer nicht all­wis­send sind, bekam ich in der sech­sten Klasse, nach­dem mein Vater bei etwas, was ich in der Schule gel­ernt hat­te, wider­sprochen hat­te. Als ich protestierte, dass der Lehrer das Gegen­teil gesagt hat­te, antworte mein Vater, dass der Kerl nicht die leis­es­te Ahnung hat­te, wovon er über­haupt sprach — dass er let­ztlich nur ein Pri­marschullehrer sei.

Nur ein Lehrer? Der Satz schien mir damals fast gram­matikalisch falsch for­muliert. Wussten Lehrer denn nicht alles über die The­men, die sie lehrten? And wenn nicht, warum waren sie dann diejeni­gen, die uns lehrten?

Die trau­rige Tat­sache ist, dass Lehrer der amerikanis­chen öffentlichen Schule ganz all­ge­mein das Mate­r­i­al, das sie lehren, eher schlecht beherrschen. Es gibt ein paar löbliche Aus­nah­men, aber in der Regel sind Leute, die in die Lehre gehen wollen, akademisch eher am unteren Ende der Col­lege-Absol­ven­ten anzusiedeln. Daher zeigt die Tat­sache, dass ich mit 11 immer noch dachte, dass Lehrer unfehlbar seien, was für einen gründlichen Arbeit das Sys­tem mit meinem Hirn geleis­tet hat.

Schule

Was Kindern in der Schule beige­bracht wird ist eine kom­plexe Mis­chung von Lügen. Die entschuld­barsten sind diejeni­gen, die erzählt wer­den, um Ideen zu vere­in­fachen, um sie leichter erlern­bar zu machen. Das Prob­lem ist, dass viel Pro­pa­gan­da in den Lehrplan hineingeschmuggelt wird im Namen der Vereinfachung.

Schul­büch­er repräsen­tieren einen Kom­pro­miss zwis­chen dem, was ver­schiedene Grup­pen den Kindern beige­bracht haben wollen. Die Lügen sind sel­ten offenkundig. Gewöhn­lich beste­hen sie entwed­er aus Aus­las­sun­gen, oder aus Ãœber­be­to­nun­gen gewiss­er The­men auf Kosten ander­er. Die Sicht auf Geschichte, die wir in der Pri­marschule beka­men, war eine rohe Hagiogra­phie, mit min­destens einem Vertreter jed­er machtvollen Gruppe.

Die berühmten Wis­senschaftler, an die ich mich erin­nere, sind Ein­stein, Marie Curie und George Wash­ing­ton Carv­er. Ein­stein war eine grosse Sache, weil seine Arbeit zur Atom­bombe führte. Marie Curie hat­te mit Rönt­gen­strahlen zu tun. Aber Carv­er hat mich ver­wirrt. Er schien irgendwelche Dinge mit Erd­nüssen angestellt zu haben.

Es ist heute offen­sichtlich, dass er auf der Liste war, weil er schwarz war (und Marie Curie war auf der Liste, weil sie eine Frau war), aber als Kind war ich jahre­lang ver­wirrt deswe­gen. I frage mich, ob es nicht bess­er gewe­sen wäre, uns ganz ein­fach die Wahrheit zu sagen: Dass es keine berühmten schwarzen Wis­senschaftler gab. George Wash­ing­ton Carv­er auf dieselbe Ebene wie Ein­stein zu heben hat uns nicht nur in Bezug auf die Wis­senschaft irregeleit­et, son­dern auch bezüglich der Hür­den, die Schwarze damals zu über­winden hatten.

Während die The­men san­fter wur­den, wur­den die Lügen häu­figer. Zu der Zeit, als wir zu Poli­tik und aktueller Geschichte kamen, war das, was uns beige­bracht wurde, fast reine Pro­pa­gan­da. Zum Beispiel wurde uns beige­bracht, die poli­tis­chen Führer als Heilige zu betra­cht­en — beson­ders Kennedy und King, die erst vor kurzem den Mär­tyr­ertod gestor­ben waren. Es war erstaunlich, später zu ler­nen, dass bei­de notorische Schürzen­jäger waren, und dass Kennedy ein ganz beson­der­er Wüstling war (zu der Zeit, als King’s Pla­gia­ris­mus zum Vorschein kam, hat­te ich die Fähigkeit, von den schlecht­en Tat­en berühmter Leute über­rascht zu wer­den, bere­its verloren).

Ich bezwei­fle, dass man Kindern aktuelle Geschichte beib­rin­gen kann, ohne ihnen Lügen zu erzählen, weil prak­tisch jed­er, der in diesem Bere­ich irgend etwas zu sagen hat, seinen beson­deren Dreh dazuzugeben hat. Die aktuell­ste Geschichte beste­ht nur noch aus Dreh. Wahrschein­lich wäre es das Beste, nur noch solche Meta-Fak­ten zu lehren.

Die wahrschein­lich grösste Lüge, die in Schulen gelehrt wird, ist allerd­ings, dass der Weg zum Erfolg durch das Befol­gen von “den Regeln” führt. Genau genom­men sind die meis­ten dieser Regeln nur zusam­mengestop­pelt, um grosse Grup­pen effizient zu managen.

Frieden

Von all den Grün­den, weshalb wir Kinder anlü­gen, ist der mächtig­ste wahrschein­lich der­selbe banale Grund, warum sie uns anlügen.

Häu­fig, wenn wir Men­schen anlü­gen, ist es nicht teil ein­er bewussten Strate­gie, son­dern weil sie auf die Wahrheit heftig reagieren wür­den. Kinder, fast def­i­n­i­tion­s­gemäss, geht die Selb­stkon­trolle ab. Sie reagieren heftig auf die Dinge — und deshalb wer­den sie auch häu­fig angel­o­gen. [9]

Vor ein paar Thanks­giv­ings hat sich ein Fre­und von mir in ein­er Sit­u­a­tion wiederge­fun­den, die auf per­fek­te Weise die kom­plex­en Motive illus­tri­ert, die wir haben, wenn wir Kinder anlü­gen. Während der gebratene Truthahn auf dem Tisch auf­tauchte, fragte sein erschreck­end scharf­sin­niger 5‑jähriger Sohn plöt­zlich, ob der Truthahn eigentlich frei­willig gestor­ben sei. Die Katas­tro­phe vorausse­hen, beeil­ten sich mein Fre­und und seine Frau rasch, zu impro­visieren: Ja, der Truthahn wollte frei­willig ster­ben, und in der Tat hat­te sein ganzes Leben mit dem Wun­sch ver­bracht, ein Thanks­giv­ing-Essen sein zu dür­fen. Und das (Uff!) war das Ende davon.

Wann immer wir Kinder anlü­gen, um sie zu beschützen, lügen wir ver­mut­lich eben­so sehr um den Frieden zu bewahren.

Eine Kon­se­quenz dieser Art von beruhi­gen­der Lüge ist die, dass wir aufwach­sen mit dem Gedanken, dass ganz furcht­bare Dinge ganz nor­mal sind. Es fällt uns schw­er, über etwas, wo wir buch­stäblich darauf trainiert wur­den, uns keine Sor­gen zu machen, ein Gefühl von Dringlichkeit zu ver­spüren wie Erwach­sene. Als ich etwa 10 war sah ich eine Doku­men­ta­tion über Umweltver­schmutzung, die mich in Panik ver­set­zte. Es schien, als ob der Plan­et unwieder­bringlich ruiniert war. Ich ging danach zu mein­er Mut­ter, um sie zu fra­gen, ob dem tat­säch­lich so sei. Ich erin­nere mich zwar nicht an ihre Antwort, aber ich fühlte mich wieder bess­er, und so hörte ich auf, mir Sor­gen zu machen.

Das war wahrschein­lich die beste Art, mit einem veängstigten 10-jähri­gen umzuge­hen. Aber wir soll­ten den Preis dafür ver­ste­hen. Diese Art Lüge ist ein­er der Haupt­gründe, warum die Dinge so bleiben, wie sie sind: Wir wur­den alle darauf trainiert, sie zu ignorieren.

Entgiftung

Ein Sprint­er geht in einem Ren­nen fast sofort in einen Zus­tand über, der “Sauer­stoff­man­gel” genan­nt wird. Sein Kör­p­er schal­tet auf eine Noten­ergiev­er­sorgung um, die schneller ist als die reg­uläre aer­o­bis­che Ath­mung. Doch dieser Prozess bildet Abfall­pro­duk­te, die let­zlich zusät­zlichen Sauer­stoff erfordern, um sie loszuw­er­den, weswe­gen er am Ende des Ren­nens anhal­ten und eine Weile nach Luft rin­gen muss um sich wieder zu erholen.

Wir lei­den bei Erre­ichen des Erwach­se­nenal­ters unter ein­er Art Wahrheits­man­gel. Es wur­den uns viele Lügen erzählt, um uns (und unsere Eltern) durch unsere Kind­heit hin­durch zu brin­gen. Einige davon waren vielle­icht notwendig. Einige wahrschein­lich nicht. Aber wir erre­ichen alle das Erwach­se­nenal­ter mit einem Kopf voller Lügen.

Es gibt niemals den Zeit­punkt, wo die Erwach­se­nen sich mit einem hin­set­zen und uns all die Lügen, die sie uns erzählt haben, erk­lären. Sie haben die meis­ten vergessen. Daher: Wenn du diese Lügen aus deinem Kopf hin­aus­be­fördern willst, dann wirst du das sel­ber tun müssen.

Wenige tun das. Die meis­ten Men­schen gehen durchs Leben mit Stück­en von Ver­pack­ungs­ma­te­r­i­al, das an ihrem Ver­stand kleben geblieben ist, und merken es gar nicht. Wahrschein­lich ist es gar nicht möglich, alle Wirkun­gen, die Lügen, die uns als Kind erzählt wur­den, auf uns haben, kom­plett aufzuheben. Aber es ist es wert, es wenig­stens zu ver­suchen. Meine eigene Erken­nt­nis war, dass, wenn immer ich es schaffte, eine Lüge, die mir erzählt wor­den war, aus dem Weg zu schaf­fen, dass dann viele Dinge wie von selb­st an ihren richti­gen Ort rücken.

Glück­licher­weise bekommst du eine wertvolle neue Ressource, sobald du die Erwach­se­nen­gren­ze über­schre­itest, die du dazu benützen kannst, die Lügen, die dir erzählt wor­den sind, aufzudeck­en. Du bist jet­zt sel­ber ein­er der Lügn­er. Du bist jet­zt in der Lage, in den Kulis­sen zu beobacht­en, wie die Erwach­se­nen die Welt ver­drehen für die näch­ste Gen­er­a­tion von Kindern.

Der erste Schritt, einen klaren Kopf zu bekom­men, ist, zu erken­nen, wie weit du davon ent­fer­nt bist, ein neu­traler Beobachter zu sein. Als ich die High School ver­liess, dachte ich, ich sei ein kom­plet­ter Skep­tik­er. Ich hat­te erkan­nt, dass die High School Schrott ist. Ich dachte, ich sei bere­it, alles zu hin­ter­fra­gen, was ich wusste. Aber unter vie­len anderen Din­gen war ich völ­lig ahnungs­los, wie viele Trüm­mer sich bere­its in meinem Kopf befan­den. Es genügt nicht, deinen Ver­stand als leere Tafel zu ver­ste­hen. Du musst sie bewusst auslöschen.

Anmerkungen

[] Ein­er der Gründe, weshalb ich bei einem so grausam ein­fachen Wort geblieben bin, ist, dass die Lügen, die wir unseren Kindern erzählen, wahrschein­lich gar nicht so harm­los sind, wie wir denken. Wenn man sich anschaut, was Erwach­sene früher Kindern erzählt haben, ist es schock­ierend, wie sehr sie sie bel­o­gen haben. Wie wir haben sie es mit den besten Absicht­en getan. Wenn wir daher denken, wir seien so offen wie man vernün­ftiger­weise mit Kindern sein könne, dann machen wir uns ver­mut­lich etwas vor. Die Chan­cen ste­hen gut, dass Men­schen in 100 Jahren genau so schock­iert sein wer­den über einige der Lügen, die wir von uns geben, wie wir es sind über die Lügen, die vor 100 Jahren erzählt wurden.

I kann nicht voraus­sagen, welche dies sein wer­den, aber ich will auch keinen Essay schreiben, der in 100 Jahren dumm erscheint. Deshalb werde ich ein­fach alle unsere Lügen Lügen nen­nen, und nicht spezielle Euphemis­men benutzen für Lügen, die nach heutiger Mode entschuld­bar erscheinen.

(Ich habe eine Art wegge­lassen: Jene, die erzählt wer­den, um mit der Leicht­gläu­bigkeit von Kindern Spielchen zu spie­len. Diese spie­len sich ab im Bere­ich “So tun als ob,” was nicht wirk­lich eine Lüge ist, son­dern mit einem Augen­zwinkern erzählt wird, bis zu den furcher­re­gen­den Lügen, die einem von den älteren Geschwis­tern erzählt wer­den. Dazu gibt es nicht viel zu sagen: Die ersteren möchte ich nicht mis­sen, und die zweit­eren wird es immer geben.)

[] Calaprice, Alice (Her­aus­ge­berin), The Quotable Ein­stein, Prince­ton Uni­ver­si­ty Press, 1996

[] Wenn man Eltern danach fragt, warum Kinder nicht fluchen sollen, so antworten die weniger Gebilde­ten üblicher­weise mit Fra­gen-heis­chen­den Erk­lärun­gen wie “Es ist unangemessen,” während die Gebilde­teren aus­gek­lügelte Ratio­nal­isierun­gen von sich geben. In der Tat scheinen die weniger Gebilde­ten näher an der Wahrheit zu sein.

[] Wie mir ein Fre­und mit kleinen Kindern aufgezeigt hat, ist es leicht für kleine Kinder, sich für unsterblich zu hal­ten, weil die Zeit für sie so langsam zu ver­stre­ichen scheint. Für einen Drei­jähri­gen fühlt sich ein Tag etwa so an wie ein Monat für einen Erwach­se­nen. Darum klin­gen 80 Jahre für ihn, wie 2400 Jahre für uns klin­gen würden.

[] Ich real­isiere, dass ich mir unendlichen Ärger ein­han­deln werde dafür, dass ich Reli­gio­nen als eine Art Lüge klas­si­fiziere. Gewöhn­lich umge­hen die Leute diese Prob­lematik mit ein­er Mehrdeutigkeit im Sinne dessen, dass Lügen, die für genü­gend lange Zeit durch eine genü­gend grosse Anzahl Men­schen geglaubt wur­den, immun sind für die nor­malen Stan­dards für Wahrheit. Da ich aber nicht vorher­sagen kann, welche Lügen zukün­ftige Gen­er­a­tio­nen für unentschuld­bar hal­ten wer­den, kann ich kor­rek­ter­weise keine Art weglassen. Ja, es erscheint unwahrschein­lich, dass Reli­gion in 100 Jahren auss­er Mode gerät, aber auch nicht unwahrschein­lich­er, als es jemand im Jahre 1880 erschienen wäre, dass Schulkindern im Jahre 1980 beige­bracht wird, dass Mas­tur­ba­tion völ­lig nor­mal ist und dass man kein schlecht­es Gewis­sen zu haben braucht deswegen.

[] Unglück­licher­weise kann die Ladung sowohl aus guten als auch aus schlecht­en Gebräuchen beste­hen. Zum Beispiel gibt es bes­timmte Qual­itäten, die gewisse Grup­pen in Ameri­ka als “sich weiss ver­hal­ten” betra­cht­en. In Tat und Wahrheit kön­nte man die meis­ten “sich Japanisch ver­hal­ten” nen­nen. Es ist nichts beson­ders weiss­es an diesen Gebräuchen. Sie sind allen Kul­turen gemein, die eine lange Tra­di­tion des in-den-Städten-lebens aufweisen. Wenn eine Gruppe sich durch das Gegen­teil definiert, so ste­ht sie damit ver­mut­lich auf ver­loren­em Posten.

[] In diesem Kon­text bedeutet “The­men” grund­sät­zlich “Dinge, über die wir Lügen erzählen wer­den.” Deshalb haben diese Bere­ich einen beson­deren Namen.

[] Mayle, Peter, Why Are We Get­ting a Divorce?, Har­mo­ny, 1988

[] Die Ironie daran ist fol­gende: Dies ist gle­ichzeit­ig der Haupt­grund, weshalb Kinder Erwach­sene anlü­gen. Falls du aus­flippst, wenn dir die Leute alarmierende Dinge erzählen, dann wer­den sie eben aufhören, sie dir zu erzählen. Teenag­er erzählen ihren Eltern nicht, was an jen­em Abend passiert ist, als sie bei einem Fre­und über­nacht­en soll­ten, aus dem­sel­ben Grund, aus dem Eltern ihrem Fün­fjähri­gen nicht erzählen, was es genau mit dem Thanks­giv­ings-Truthahn auf sich hat. Sie wür­den aus­flip­pen, wenn sie es wüssten.

Danke an Sam Alt­man, Marc Andreessen, Trevor Black­well, Patrick Col­li­son, Jes­si­ca Liv­ingston, Jack­ie McDo­nough, Robert Mor­ris, and David Sloo für das Lesen der Entwürfe dieses Essays. Und da es einige kon­tro­verse Ideen hier hat, sollte ich ergänzen, dass kein­er von ihnen mit allem ein­ver­standen war.

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