Ein Märchen.
Auf einem Felsen mitten im Bergstrom saß ich und ließ meine Füße hinabbaumeln, dass sie fast die Oberfläche der hüpfenden, kreiselnden Wasser berührten. Hier und da flog mir ein neugieriges Wellchen auf die Schuhspitze, ließ sich von dem Sonnenstrahl küssen und entfloh dann — wie ein schüchternes Mädchen — wieder in die Tiefe.
Was aber das Schönste war, davon sah und hörte sonst niemand etwas — und das war die Unterhaltung, die die Fluten des Bergstroms mit meinen Schuhsohlen pflogen.
“Wer seid ihr?” fragten die Schuhsohlen; denn sie waren weitgereist und eifrig bestrebt, sich zu bilden.
“Tränen!” rief eine kleine Welle, überschlug sich — und fort war sie.
Die Schuhsohlen stießen sich gegenseitig mit den Ellbogen vor Verwunderung — eine solche Antwort hatten sie sich nicht träumen lassen.
“Wer hat euch denn aber geweint?” fragte die linke.
“Menschen!” rief eine kleine Welle, überschlug sich und verschwand. —
“Das ist sehr merkwürdig” meinte die rechte Schuhsohle “da müssen wir noch mehr erfahren.”
Weil sie aber von den flüchtigen Wellchen allzuknappe Antworten erhielten, zupften sie den alten runzeligen Felsblock, der, neben ihnen behaglich am Bücken liegend, sich von den Fluten umspülen ließ, an seinem Moosbart und baten ihn um nähern Aufschluss. Der drehte sich ein wenig auf die Seite und sah sich die beiden Schwestern misstrauisch an; denn er kannte diese Sorte von Lebewesen, die ihm schon oft den Schlummer gestört und den Bart zertrampelt hatten. Da er aber von Natur gutmütig war und an den jungen frischen Gesichtern, die noch nicht viel auf dem Gewissen haben konnten, Gefallen fand, ließ er sich bewegen, sie aufzuklären.
“Ich bin älter als alle Menschen” sagte er und strich seinen Moosbart.
Die Schuhsohlen blickten ungläubig drein, denn sie hatten keine Ahnung von Naturgeschichte.
“Als es noch keine Menschen gab, war auf der Erde noch wenig Wasser vorhanden. Wo jetzt das Meer und die Seen und die Ströme fließen, waren blühende Täler; und wenn man auch vielfach feuchte Strecken fand, so war dies doch nichts im Vergleich zu den heutigen Verhältnissen. Als aber die Menschen kamen, kamen mit ihnen die Sorgen — und die Tränen.
Als kleine Kinder weinten sie schon und als sie groß wurden und viele hundert Jahre alt, hatten sie wenig Grund es zu verlernen. Und der Wind, der um ihre nassen Wangen strich, nahm die Tränen mit fort und entführte sie in sein luftiges Reich, um mit ihnen zu spielen und fröhlich zu sein; denn er war bisher gar einsam gewesen. Ihnen aber wurde das Herz schwer, da sie sehr an der Erde und den Menschen hingen, und als einmal der Wind, von der Sonnenglut ermattet, eingeschlafen war, taten sie sich zusammen und flohen blitzschnell auf ihre liebe Erde herab. Als der Wind erwachte wurde er sehr böse und schwor, er wolle die Ungehorsamen schon wieder zurückbringen, aber was er auch versuchte, sie an sich zu fesseln, sie entflohen immer wieder aus unbezähmbarem Heimweh.
Die Menschen nun nannten diesen Vorgang den ‘Regen’, ohne freilich zu ahnen, dass es die Rückkehr ihrer eigenen Tränen war. Und im Lauf der Jahrtausende, wo der Menschenkinder immer mehr und mehr wurden, füllte der Regen große Becken und lange Rinnsale, und die Menschen sagten ‘dies ist das Meer’ und ‘dies sind Ströme’, und Gelehrte und Forscher gaben ihnen allerlei Namen und schrieben tiefsinnige Bücher darüber; den wahren Zusammenhang aber hat noch keiner ergründet und wird wohl auch keiner ergründen.
Denn wir Felsen sind älter als alle Menschen« sagte er “und wissen allein die Wahrheit.” Die beiden Schuhsohlen, die ganz starr geworden waren vor so viel Gelehrsamkeit, machten einen tiefen Knicks, dass sie bis ins Wasser hineintauchten vor lauter Dankbarkeit und Ehrfurcht. Sie wüssten freilich nichts dergleichen zu erzählen, sie seien noch zu jung und ohne viel Erfahrung.
“Höchstens — ” meinte schüchtern die eine und wollte offenbar irgend eine Liebesgeschichte zum besten geben, aber sie kam nicht weiter; denn ich spürte, wie meine Fußspitzen feucht geworden waren, und sprang auf, den Heimweg anzutreten.
Chr. Morgenstern
Sept. 1892