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Mehr Mann

Män­ner, die ein biss­chen älter wer­den, flücht­en sich in der Regel irgend­wann in alle möglichen, meist lächer­lichen Rollen: Der Marathon­läufer, der Sport­wa­gen­fahrer, der Golf­spiel­er, der Play­boy, der Kon­sumkri­tik­er, der all den Spass, den er in jün­geren Jahren hat­te, solange im Hirn wiederkäut, bis er sein Nicht­mehrvorhan­den­sein als befreiend empfind­et. Dazu ver­stärkt sich bei bere­its hüft­steifen Män­nern über 40 die Ten­denz, wie Stu­di­en im Bekan­ntenkreis zeigen, nur noch in sich selb­st hineinzuhören; das Desin­ter­esse der Welt und an anderen Men­schen regel­recht zu kul­tivieren. Die ihn umgebende Aura der Ver­här­tung ver­wech­selt der alternde Mann dann mit Viril­ität. Selb­st Frau und Kinder im Leben des altern­den Mannes schaf­fen es oft­mals nicht, das eine, grosse Prob­lem zu lösen: seine Unfähigkeit, sein Leben wirk­lich zu teilen, mit Worten zu teilen.

Ein biss­chen nach­haltiger glück­lich trotz bere­its ver­streuten Genen und beru­flichen Loor­beeren wird jedoch nur, wer andere als Eingewei­hte an seinem Leben teil­haben lässt — das ver­ste­hen Frauen irgend­wie instinktiver.

Die Über­legun­gen ein­er erfahre­nen Psy­cho­an­a­lytik­erin leucht­en deshalb ein. Schon viele Män­ner trauerten bei ihr vor sich hin. Män­ner, so die über­raschende These der Ana­lytik­erin, leg­en sich Lieb­haberin­nen zu oder flücht­en sich in Affären, nicht etwa, weil sie ein über­wälti­gen­des Bedürf­nis ver­spüren, ihr Restsper­ma zu verteilen. Son­dern, weil sie es ver­säumt haben, in jün­geren Jahren dauer­hafte, intimere Beziehun­gen mit anderen Män­nern aufzubauen. Der alternde Mann sucht also nicht so sehr den Sex mit der jün­geren Frau, die wiederum auf der Suche nach wertvoller DNA ist, son­dern immer nur den Fre­und, den er ver­loren oder vielle­icht nie gehabt hat.

Was dem Mann hil­ft, wenn er die Uhr tick­en hört, ist also nicht noch mehr Frau in seinem Leben — das fördert höch­stens seine Hys­ter­isierung -, son­dern eben mehr Mann.

Diese Kolumne erschien zuerst im Mag­a­zin Nr. 47 vom 3.12.2010 in der Rubrik “Kom­man­do Gegen­wart”. Sie gefiel mir so gut, dass ich sie gerne hier wiederveröf­fentliche, auch weil sie so gut zum grossen The­ma des Män­ner­work­shops passt, bei dem ich als Simul­tanüber­set­zer des Sem­i­narleit­ers John Bel­lic­chi tätig bin. Mit fre­undlich­er Genehmi­gung des Autors, Finn Canonica.

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